Es ist Dienstag. Genauer gesagt der Dienstag nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt.
Die Wahlergebnisse des Wochenendes waren für viele Menschen ein Schlag ins Gesicht: Knapp 21% für die blaue Partei, die im Nachbarbundesland Thüringen wie auch schon die NSDAP während des zweiten Weltkrieges queere Person zählen lassen will. Aber auch die 37% für die CDU heißen für queere Personen in Sachsen-Anhalt nicht unbedingt nur Gutes.
Nichtsdestotrotz bin ich mit der neuen Jugendgruppenleitung der queeren Jugendgruppe, die aktuell in Sangerhausen aufgebaut wird, zu einem Zoom-Gespräch verabredet.
Jo (26, nutzt keine Pronomen) studiert Musikwissenschaft und Ethnologie im Bachelor, engagiert sich neben der Jugendgruppenleitung in Sangerhausen für die queere schulische Bildung in Zusammenarbeit mit dem bbz-Lebensart in Halle und findet, dass es langsam Zeit wird, dass im Land mehr für queere Jugendliche und deren Schutz getan wird.
Unser Gespräch beginnt gleich mit der Frage, welche möglichen Schwierigkeiten im Projekt aufkommen könnten.
„Es ist schwer, viele Jugendliche im ländlichen Raum zu erreichen, denn zumeist haben die Jugendlichen nicht die Möglichkeit, nach Halle oder Magdeburg zu fahren. Dass bisher keine Präsenzveranstaltungen genutzt werden konnten, hat den Start der Jugendgruppe zusätzlich erschwert, denn häufig sind diese noch ungeoutet und trauen sich entsprechend nicht, queere Jugendangebote anzunehmen.“
Jo ist dennoch zuversichtlich, dass die queere Jugendgruppe gut anlaufen wird: „Das Projekt wird sich unter den queeren Jugendlichen herumsprechen, denn die sind häufig schon miteinander vernetzt.“ Die Vernetzung der queeren Jugendlichen komme auch von den häufigen und geteilten Diskriminierungserfahrungen, die die jungen Personen nicht nur im Schulalltag durchleben.
Ich hake nach, wie es zum Angebotsaufbau in Sangerhausen kam. Bislang waren vor allem die meist wöchentlichen queeren Freizeitangebote in den beiden Großstädten Halle und Magdeburg bekannt. Die queeren Jugendlichen im ländlichen Raum Sachsen-Anhalts fielen oft hinten runter.
Jo erzählt, dass durch das Engagement im schulischen Bildungsbereich bereits einige Jugendliche den Wunsch nach einer queeren Jugendgruppe geäußert hätten und auf die Nachricht zur neuen Jugendgruppe mit “Endlich! Endlich gibt es etwas, wo wir hinkönnen!“ reagiert hatten.
Zusätzlich zu den Jugendlichen, die ihre Wünsche nach einem explizit queerfreundlichen und diskriminierungsfreien Rückzugsort geäußert haben, hatten sowohl das Koordinationsprojekt „Demokratie Leben!“ als auch der Kreis-Kinder-und-Jugendring Bedarfe für eine queere Jugendgruppe angemeldet haben.
Ein weiterer Grund für die Auswahl des Standortes der neuen queeren Jugendgruppe ist die durchwachsene Situation im Landkreis. Die Infrastruktur in Landkreis sei ein großes Problem, betont Jo, da es für queere Jugendliche aus Dörfern, die um Sangerhausen liegen, oftmals schwierig bis unmöglich sei, in die Stadt zu kommen. Mansfeld-Südharz sei außerdem sehr rechts und entsprechend stark seien die queeren Jugendlichen von Diskriminierung betroffen.
Trigger Warnung: Suizid, Diskriminierung, Gewalterfahrung
Diskriminierungserfahrungen hat Jo nicht nur als queere Person gemacht. Im Laufe des Gesprächs nennt einige Beispiele von Gewalterfahrungen, die Freund_innen und Familienmitglieder der Gruppenleitung in ihrer Jugend durchmachen musste: „Mein Pflegebruder wurde mit 14 von Zuhause rausgeschmissen und hatte auf der Straße gelebt, da er sich erst als lesbisch und dann als trans geoutet hat.“
Doch nicht nur von Wohnungs- und Obdachlosigkeit sind queere Jugendliche betroffen.
„Ich hatte in der Jugend zwei Freund_innen, die sich umgebracht haben, weil ihre Eltern sie nicht akzeptiert haben“, auch das ist einer der Gründe, warum Jo sich für die queere Jugendgruppe einsetzt, „Es hätte etwas geben müssen, wo die beiden hingehen können.“
Zusätzlich zur Jugendgruppe macht sich Jo für eine Art Notfalltelefon stark, das queere Jugendliche nutzen können, falls es zu einer akuten Krise oder queerfeindlicher Gewalt kommt. Hier werfe ich ein, dass Supervision wichtig für alle Beteiligten ist, da Suizidprävention ein schweres emotionales Thema ist, das oft nicht einfach abgeschüttelt werden kann.
Jo sorgt sich jedoch, wie mit einer akuten Krise umgegangen werden kann und ob Jo die Situation ausgehalten kann: „Im schulischen Kontext gibt noch eine Lehrkraft, die hintendran steht und mit der ich mich austauschen kann“, im Gruppenleitungskontext sei Jo jedoch allein.
Den Punkt und die Angst vor dem Gefühl der Hilfslosigkeit kann ich aus meiner eigenen Arbeitserfahrung im offenen Jugendbereich gut nachvollziehen.
Je länger wir über das Thema „Queere Jugendliche und Schule“ sprechen, desto klarer wird uns, dass viele Schulsozialarbeiter_innen und Lehrkräfte rat- und hilflos sind, wenn es um queere Jugendliche geht. Sie wissen häufig nicht, wie sie auf Diskriminierungserfahrungen an Schulen oder aber auch Coming Outs zu reagieren haben und können queere Jugendliche entsprechend nicht schützen. Ich werfe außerdem ein, dass Soziale Arbeit leider immer noch ein sehr konservatives Feld ist und Homo-, Bi-, Asexuellen- und Transfeindlichkeit im Studium häufiger an der Tagesordnung sind, als es uns lieb ist.
Neben Queerfeindlichkeit in der pädagogischen Ausbildung bekleckern sich die sachsen-anhaltischen Hochschulen ebenfalls nicht mit Ruhm: an der Martin-Luther-Universität ist es aktuell nicht möglich, den Namen des Abschlusszeugnisses ändern zu lassen, wenn die Personenstands- und Namensänderung noch nicht durchgeführt wurde.
Da diese Änderung für trans Personen unter das „Transsexuellengesetz“ (TSG) fallen, ist eine Anpassung des Namens gar nicht so einfach. Neben Dingen wie dem „Trans-Lebenslauf“, mehreren Gutachten und eine mindestens 1.5-jährige Therapie, in der bewiesen werden muss, dass die betroffene Person trans ist, kosten Verfahren unter dem TSG viel Geld – Geld, das die meisten trans Personen nicht haben, da sie häufiger von Diskriminierung am Arbeitsplatz, Arbeits- und Wohnungslosigkeit betroffen sind.
Um dieser Diskriminierung entgegenzusteuern, möchte Jo nicht nur einen Schutzraum in Sangerhausen aufbauen, sondern mit den Jugendlichen auch Workshops zur Selbstwahrnehmung und dem Umgang mit Diskriminierung durchführen. Ausflüge zum CSD (Christopher-Street-Day) oder der Vernetzung mit anderen queeren Jugendgruppen sind zusätzlich geplant.
Abschließend frage ich, was Jo sich für die künftige Arbeit als Jugendgruppenleitung wünscht: „Für die Gruppe wünsche ich mir, dass ein sicherer Raum entstehen kann, in dem keine alltäglichen Diskriminierungen stattfinden. Außerdem wünsche ich mir, dass die Jugendlichen in der Gruppe sie selbst sein können.“
Beim Thema „queer in Sachsen-Anhalt“ müsse sich noch einiges tun, denn ältere Generationen können nicht mehr geändert werden. Queeren Jugendlichen könne jedoch in Zukunft beigestanden und ihnen gezeigt werden, dass sie nicht allein sind. Zusätzlich dazu, findet Jo zu Recht, müsse deutlich mehr Antidiskriminierungsarbeit in den Schulen durchgeführt und weitere queere Jugendgruppen aufgebaut werden.
Da Jos Internetverbindung leider wieder abzubrechen droht, beenden wir das Gespräch über Zoom.
Als queere Fachkraft, die bereits in der offenen Jugendarbeit tätig war, bin ich einerseits glücklich, dass sich langsam etwas in Sachen queere Jugendarbeit in Sachsen-Anhalt tut. Schaue ich jedoch in Bundesländer wie Berlin, NRW oder auch Schleswig-Holstein weiß ich, dass noch Luft nach oben ist. Es kann noch viel getan werden – fangen wir also mit dem ersten Treffen am 12. Juni im Soziokulturellen Treff in Sangerhausen an, die ländliche Gegend in Sachsen-Anhalt ein wenig queerer zu machen.
Für alle, die nun neugierig geworden sind:
In
- Halle (LAMBDA / bbz-Lebensart),
- Magdeburg (LSVD Sachsen-Anhalt),
- Weißandt-Gölzau (Regenbogen-Treff),
- Dessau (Schwuler Stammtisch),
- Wittenberg (LAMBDA / Queerbeet) und
- Ilsenburg / Quedlinburg (Er gehört zu mir)
gibt es queere (Jugend-)Gruppen, die sich teilweise wieder in den Räumlichkeiten vor Ort treffen.
Geplant sind außerdem weitere Jugendgruppe in anderen Landkreisen Sachsen-Anhalts.
In den meisten Fällen ist eine Anmeldung nicht notwendig.
Die üblichen AHA-Regeln (Abstand – Hände waschen – Maske tragen) gelten vor Ort jedoch.